Sonntag, 10. Januar 2016
London, Brighton, 1991
... Ich hatte keine Ahnung, mit wem ich darüber hätte sprechen können. Mir fiel absolut niemand ein, der es vielleicht verstanden hätte. Seit ich in Monsieurs Wohnung in London gezogen war, hatte ich nicht viele Menschen kennen gelernt. Ich hatte Tom gehabt, doch jetzt war er fort.
Es kam aus heiterem Himmel, es war wie einer dieser Regenschauer im Winter, die einen bis auf die Knochen durchfrieren lassen. Eben war noch alles in Ordnung, und im nächsten Augenblick verliert man den Boden unter den Füßen. Ich sah mich um und erkannte nicht einmal die einfachsten Gegenstände: den Herd, die Uhr, die kleine Porzellanvase, die Tom mir geschenkt hatte. Er hatte mir einen Brief hinterlassen, in dem er mir seine Handlungsweise erklärte, aber ich brachte es nicht über mich, mehr als die ersten beiden Zeilen zu lesen. Er schien noch immer da zu sein - als bräuchte ich mich nur umzudrehen, um ihn zu sehen, wie er im Sessel saß und die Zeitung las, in der Socke schon wieder ein Loch. Doch er hatte sein Werkzeug und einen Koffer mitgenommen. Ich weinte stundenlang. Es war, als hätte er mein ganzes Leben ohne Abendessen zu Bett geschickt.
Als ich noch in Voutenay zur Schule ging, nannte man mich Petit Oiseau. Ich war zierlich und dünn, und die Erwachsenen machten immer Bemerkungen über meine Hakennase. Ich saß meist in der Küche und sah meiner Mutter beim Kochen zu; wir suchten beide Zuflucht in der Schlichtheit der Rezepte und der Zubereitung der Mahlzeiten. Aber hier gab es niemanden, für den ich hätte sorgen können. Monsieur war auf Reisen, nicht einmal der Gärtner war da.
In unserer Dienstbotenwohnung hatte Tom neben seiner Seite des Betts eine Schatulle gehabt. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, in Rente zu gehen, und ein letztes Paar Schuhe für Monsieur angefertig. Für die Schatulle hatte er Mahagoniholz verwendet; auf der Vorderseite hatte er ein noch nicht graviertes Messingschild angebracht. Ich öffnete das Kästchen, nahm die Schuhe heraus und zerschnitt sie sorgsam mit einer Schere. Der Satinstoff leistete keinen Wiederstand. Danach legte ich die Stücke wieder in die Schatulle. Ich wusste, dass ich nicht ganz bei mir war, aber das war mir gleichgültig.
...


Colum
Der Tänzer
McCann

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Mittwoch, 7. Oktober 2015
R- 15. April 1995
Der Zauber eines Tanzes, junger Freund, ist etwas
ganz und gar Zufälliges. Das Paradoxe dabei ist, dass
du mehr als irgendjemand anders dafür tun musst,
dass sich dieser Zufall ereignen kann. Wenn er sich
dann ereignet, ist er das Einzige, das sich in deinem
Leben garantiert nie mehr ereignen wird. Für manche
ist das ein Unglück, für andere dagegen ist es die
einzige Ekstase.
Vielleicht solltest du aber alles vergessen, was ich
zu dir gesagt habe, und nur dieses eine behalten: Die
wahre Schönheit des Lebens ist, dass Schönheit
manchmal möglich ist.
Sascha


Colum McCann
"Der Tänzer"
Roman

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Freitag, 25. September 2015
morgen..
morgen morgen
werde ich
würde es
ich schwöre dir

morgen morgen
schwöre ich
würdest du
ich wäre es



t. Petri

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