Freitag, 6. April 2018
Die Adler und die Raben
Auf einem großen Gebirge lagen zwei weite Wälder nachbarlich einander gegenüber, fern den Gegenden, welche Menschen bewohnten, und in einem dieser Wälder horsteten eitel Adler, im anderen aber nisteten bloß Raben, und jedes dieser Vogelgeschlechter stand unter einem Könige von demselben Stamme, welche über ihr Volk als Alleinherscher regierten.
Da geschah es, daß alter Haß aufs neue rege ward unter den Adlern gegen die Raben, und in einer Nacht der Adlerkönig sich mit einer Schar der Seinen erhob, hinüber flog nach dem Rabenwalde, dort die schlafenden und keines feindseligen Angriffes sich versehenden Raben überfiel und ihrer eine große Anzahl tötete, ohne daß der Rabenkönig nur etwas von diesem Überfall erfuhr, bis am Morgen, als er erwachte und sich von seinem Neste erhob. Da vernahm er den Schaden und großen Verlust der Seinen mit ernster Betrübnis und versammelte all seine Räte, und gedachte mit ihnen zu beratschlagen, wie man am besten diese untreue Tat der Adler rächen könne und solle. Da die Raben, wie die Naturgeschichte lehrt, merklich gute Redner sind, so fehlt es auch dem Rabenkönige nicht an der rechten Redegabe, und er sprach zu seinem versammelten Rate also:
“Meine lieben Getreuen! Euch ist kund geworden, wie ohne vorherige Absagung und Kriegserklärung zuwider allem Völkerrechte die Adler, unsere Nachbarn, uns heimlich bei nächtlicher Weile überzogen und viele der unsern gemordet haben, ohne daß wir zur Zeit noch erfahren können, warum sie solches getan haben? Werden wir das dulden und es ohne Wiedervergeltung geschehen sein lassen, so wird es mehrmals geschehen, darum laßt uns ratschlagen, auf welchen Wegen wir das tun, was für uns und unser Staat das Beste ist. Übereilt euch nicht mit eurem Rate, sondern überlegt ihn wohl, denn unser aller Wohl oder Wehe hängt davon ab, ob wir weisen oder unweisen Rat schöpfen. Sinne ein jeder eine gute Weile nach über den unerhörten Fall, der unsers Reiches bisherige Wohlfahrt stört, ja sie mit Vernichtung bedroht, wenn wir nicht Mittel finden, dem feindseligen Tun der Adler zu steuern.”
Auf diese Rede des Königs erfolgte eine geheime Sitzung bei verschlossenen Türen, welcher nur die fünf Geheimräte des Königs beiwohnten, den König an ihrer Spitze. Diese Raben waren mehrenteils von Alter ganz grau, einige waren sogar weiß befiedert, mancher hatte einen völlig kahlen Kopf, und fast alle gingen gebeugt einher, unter der Last ihrer Jahre, die, wenn man sie zusammen zählte, sich auf eine hohe Summe beliefen. Der König war weit jünger als sie alle. Als der letztere nun das geheime Conseil eröffnete, so nahm der erste, der Vorsitzende im geheimen Staatsrat, als Minister-Präsident das Wort, und sprach: “Großmächtigster König und Herr! Die alten Weisen haben schon ausgesprochen, was ich zu raten mir gestatte: Wenn ein Feind dir an Macht überlegen ist, und du nicht vermagst, ihm zu widerstehen, so weiche ihm, und vermiß dich nicht mit einem eitlen und stolzen Herzen mit ihm zu kämpfen, sonst wirst du des Schadens noch mehr von ihm erleiden, denn zuvor.” Der König fasste den Sinn dieser Rede vollkommen wohl, äußerte seine Meinung aber nicht, sondern wendete sich an seinen zweiten Geheimrat und fragte: “Was sagst du?” “Allergnädigster König und Herr!” antwortete der Gefragte, “meiner ohnmaßgeblichen Meinung nach kann ich die Absicht meines geehrten Freundes, der vor mir gesprochen, nicht teilen. Sollte es wohl getan sein, so ohne weiteres uns als besiegt zu erklären und unsere Heimat ohne den mindesten Versuch einer Verteidigung aufzugeben? Nein, lasset uns in Eintracht bereit sein zu mannhaftem Widerstande, wehrhaft gerüstet und allewege wachsam. Hüter und Späher lasset uns aussenden, die uns alles künden, was sie vom Beginnen der Adler gewahren, und kommen sie wieder, uns feindlich anzufallen, so laßt uns ihnen tapfer entgegen ziehen mit aller Macht. Vielleicht entweichen sie, wenn sie wahrnehmen, daß wir mit gleicher Münze ihnen zu zahlen bereit sind, wie sie uns. Schimpflich wäre uns Flucht mit Weibern und Kindern, und das Verlassen dieses unseres durch unsere Väter geheiligten Waldes und Wohnsitzes. Den laßt uns behaupten und verteidigen auf Tod und Leben; zu schimpflicher Flucht bleibt immer noch Zeit, wenn im Kampfe wir unterliegen.” Schweigend hörte der König auch diesen Rat, und gab dem dritten seiner Geheimräte das Wort. Dieser erhob mit Würde sein ernst gesenktes Haupt und öffnete seinen Schnabel bedachtsam. “Allergnädigster König und Herr ! Die verehrten Vorredner haben gewiß nach ihrer beiderseitigen, wenn auch entgegenstehenden Überzeugung gesprochen. Mir scheint es schwierig zu sein, gegen die Adler mit Hoffnung auf Sieg zu streiten, denn offenbar sind sie stärker, streitbarer und mächtiger, aber auch ich rate nicht schimpfliche Flucht und freiwilliges Exil an. Sende, o König, einen weisen, redekundigen Mann deines Vertrauens zu den Adlern hinüber, der ihren König als dein Gesandter in deinem Namen frage, ob er Kenntnis von dem Überfalle gehabt, was dessen Grund sei, und womit wir denselben verschuldet? Vielleicht läßt sich das Geschehene als ein Mißverständnis sühnen und auf dem Wege der Verhandlung gütlich beilegen. Vielleicht läßt sich auch von unserer Seite der Friede mit den Adlern erkaufen, damit wir ruhig im Schoße unserer Heimat verbleiben, denn das ist das Wort der alten Weisen: Besser ist Friede denn Krieg, und nicht schimpflich ist es, Tribut zu entrichten dem unbesiegbaren Feinde !“ Der Sprecher schwieg, und schweigend gab der König dem vierten Rate das Wort. Dieser minder hochbetagt, wie seine Vorredner, hob sein Haupt mit kühner Bewegung und sprach mit männlicher Kraft: “Keiner der verehrten Ratgeber hat ausgesprochen, was uns in Wahrheit frommen mag ! Ich stimme gegen das gänzliche Aufgeben und Verlassen unseres heimatlichen Wohnsitzes, ich stimme gegen den ungleichen Kampf, der nur mit unserer schmählichen Niederlage und Knechtung enden würde, ich stimme gegen Verhandlung mit jenen nichtswürdigen Adlern, und vor allen stimme ich gegen einen Tribut, der uns ihnen gleichsam unterordnet. Mein unmaßgeblicher Rat ist, eine Zeitlang zu weichen, uns draußen Bundesgenossen zu werben, und dann unversehens mit Heeresmacht zurückzukehren, den Adlern zu tun, wie sie uns getan, um unsern Wohnsitz uns wieder zu gewinnen. Die alten Weisen sagten: Wer sich seinem Feinde unterwürfig macht, der hilft ihm wider sich selbst.” Der König wiegte bedächtig sein Haupt hin und her ; er faßte und wog den Sinn aller vernommenen Worte in seinen Gedanken, und winkte dem fünften seiner Räte, zu sprechen. Dieser begann: “Meinem Bedünken nach frommt uns keiner von allen den bisher gegebenen Ratschlägen vollkommen. Ich kann zwar ebenfalls nicht dafür stimmen, gegen einen uns überlegenen Feind zu streiten. Ich fürchte die Aaren. Niemand soll seinen Feind allzu gering achten ! Ich kann aber auch nicht zu schimpflicher Flucht raten, eben so wenig zu schimpflichem Tribut, und noch minder möchte ich den Adlern die Ehre einer Gesandtschaft unsererseits angetan sehen, denn einer solchen würden sie sicherlich spotten. Die alten Weisen geben den Rat: Niemand nahe sich seinem Feinde, so er nicht eigenen Vorteil gewahrt. Mein Rat und Vorschlag ist der, abzuwarten mit List und Vorsicht, was weiter von Seiten der Adler gegen uns vorgenommen werden will, keine Furcht zu zeigen, aber auch keine Herausforderung, keine Demütigung, aber auch keinen Übermut. Ein Weiser sieht seinen Schaden voraus, und bewahrt sich vor ihm, bevor er ihm naht. Denn unwiderruflich ist, wenn es nahe schon kam, uns das Unheil. Mit sanfter Gewalt durch List und Verstand vermeiden wir vielleicht den Krieg und die Unterjochung.” Jetzt nahm der König fragend das Wort: “Wie meinst du das ? Welche List willst du brauchen gegen die Adler ? Sprich es ganz aus, was du im Sinne hast.” Der Sprecher erwiderte: “Höre mich, mein König und Herr ! Wenn ein König seine Räte befragt, die er als weise erkannt, und welche Kenntnis von allen Dingen besitzen, so wird sein Reich wohl bestehen und seine Macht wird gemehrt und gestärkt. Verschmäht aber ein König den Rat seiner Weisen, und folgt, selbst wenn es ihm an eigener Klugheit und Einsicht nicht mangelt, nur seinem eigenen Willen und Vorsatz, der wird selten ein glückhaftes Ende seiner Ratschläge sehen, und sein Reich wird nicht zur Blüte gelangen. Lasset uns unser aller Rat so lange prüfen und weislich durchdenken, bis wir das finden, was das gemeinsame Beste ist. Mein Rat ist dieser: Zum ersten, daß wir uns des Eindrucks entschlagen, den der Schreck des unvermuteten feindlichen Überfalles in unsere Herzen groß, und mit gestärktem herzhaften Gemüte Beschlüsse fassen. Zweitens, daß wir uns völlig klar werden über die Ursache des Überfalles und die Feindseligkeit der Adler gegen uns, eine Ursache, die im geschichtlichen Boden wurzelt. Ohne diese Ursache zu kennen und reiflich zu erwägen, ist unsererseits ein vernunftgemäßer Entschluss nicht möglich.” “Aber wie sollen wir diese Ursache ergründen?” fragte der König. “Sie ist ergründet, ich kenne sie, mein König”, antwortete der Sprecher. “So sage sie ! “ gebot der König. “Sie ist ein Geheimnis, mein königlicher Gebieter ! “ entgegnete der weise Ratgeber. “Die alten Weisen gaben aber das schöne Rätsel auf: Was ist für einen zu wenig, für zwei genügend, für drei zu viel? Das Geheimnis, und was ich dir zu sagen habe, ist nur für zwei Zungen und für vier Ohren tauglich. Wie weise auch mancher Herrscher sei, alles kann er doch nicht wissen, darum heißen der Herrscher vertraute Räte Geheime, daß er ihnen seine Heimlichkeit anvertraue und sie ihm hinwiederum mitteilen, was nicht ein jeder andere zu wissen braucht.” - Auf diese Worte hob der König die Sitzung seines Geheimratskollegiums auf und hieß den weisen Rat ihm in ein abgesondertes Gemach folgen, und fragte ihn dort: “ Was weißt du von der Ursache des gegen uns offenbar gewordenen Hasses der Adler ? “ “Die ganze Ursache wurzelt in einer Rede, mein König, die einmal ein Rabe gehalten hat” - antwortete der Geheimrat. “Setze dich nieder, und erzähle mir das ! “ sprach der König, und ließ sich ebenfalls nieder, um aufmerksam zuzuhören, und der Ratgeber erzählte.
Vom Hasen und dem Elefantenkönige

“ Es kamen einmal alle Geschlechter der Vögel zusammen, gemeinsam einen neuen König zu küren, denn ihr bisheriger König war gestorben, und sie waren bereits unter sich einig, den Aar zum Könige zu wählen. Schon sollte die Wahl erfolgen und bestätigt werden, so sahe die Versammlung von weiten den Raben geflogen kommen, der sich verspätet hatte, und da sprachen einige der Versammelten: “Es ist gut, daß der Rabe auch kommt, auf daß wir seinen Rat ebenfalls vernehmen`, und als der Rabe sich niederließ, sprachen sie zu ihm: `Es ist recht, daß du kommst, dein Stimmrecht auszuüben, wie jeder von uns befugt und berufen ist ; gern hören wir deine Meinung, doch sind die meisten Stimmen für den Adler als unsern künftigen König.` Darauf antwortete der Rabe:
`Wenn über die Wahl bereits entschieden ist, so bleibe ich in der Minderheit und bin von vorn herein überstimmt, aber dennoch gebe ich mein Nein zu diesem euren Beschluß. Und selbst wenn es keine edlen Geschlechter mehr unter uns Vögeln mehr gäbe, keine Königsgeier, Edelfalken, Reiher und heilige Ibisse, Schwäne und Paradiesvögel, sondern nur Tauben, Spatzen, Nachteulen und Rohrdommeln, und dergleichen, so würde ich dennoch nicht für den Adler als unser gemeinschaftliches Oberhaupt stimmen, denn er wird von bösen Sitten beherrscht, seine Farbe ist ein unentschiedenes geflecktes getiegertes Braun, seine Zunge trägt er verkehrt im Schnabel, schöne Reden zu halten, wie wir weise Raben, vermag er gar nicht, und doch kommt so unendlich viel darauf an, daß ein Herrscher gut zu sprechen und Reden zu halten wisse. Der Adler ist ein halber Tor - in seinem ganzen Wesen und Gebehrden ist kein Adel, nicht das, was wir noble Haltung nennen. Vernunft besitzt er gar keine, desto mehr aber Grimm und Grausamkeit, jähen Zorn und gnadenlose, unbarmherzige Tyrannei. Sein ganzes Geschlecht ist von jeher übel berühmt ; hat stets auf schlimmes gesonnen und ist arglistigen, tückischen Herzens auf anderer Schaden bedacht gewesen, ist so voll Bosheit, daß ich es gar nicht aussprechen vermag. Darum sag ich euch, wählt keinen Adler zu unserem Könige, suchet euch einen andern, wenn er vielleicht auch minder klug und scharfsinnig ist ; edle Einfalt der Gemütsart ist besser als behende allüberlistende Klugheit. Denn wäre einer König, und immerhin etwas beschränkten Verstandes, wenn er weise Minister hat und fromme Räte und Beisassen, so wird sein Reich wohl bestehen, wie wir ein Beispiel haben an dem Könige der Hasen. Dieser war nicht besonders klug und weise, aber er folgte weisen Ratschlägen und das kam ihm zu gute.`
Auf diese Rede fragten alle Vögel, welche so aufmerksam zuhörten, wie du jetzt mir, mein allergnädigster König und Herr” - fuhr der weise Ratgeber zu erzählen fort: “ Was denn der Hsenkönig getan und vorgehabt? worauf der Rabe antwortete:
`Es war einmal ein überteures Jahr, und dabei so trocken, daß die Früchte des Landes verdorrten und alle Quellbrunnen versiegten ; das fiel allen Tieren zu ertragen sehr schwer, am schwersten aber denen, welche vieler Pflanzennahrung bedürfen, folglich den größeren und größten, nämlich den Elefanten. Diese traten zusammen, und klagten ihrem Könige ihre große Not, und sprachen: ´Uns gebricht es täglich mehr an Wasser und Weide. Wäre es dir genehm, so wollten wir Boten aussenden, eine andere Wohnstätte zu suchen, daß wir unser Leben erhalten.´ - ´Ich habe nichts dagegen, tut nach eurem Rat und Gefallen !´antwortete der Elefantenkönig. Darauf ernannten die Elefanten einen Ausschuß, und schickten dessen Mitglieder aus, umher zu lugen, und zu suchen, wo sich ein besserer und wasserreicher Wohn- und Weideplatz böte. Davon gelangten einige in das Königreich der Hasen ; das war ein lustiger Ort, mit einem Brunnen, welcher dem Monde heilig war, wie denn auch die Hasen dem Monde heilig waren vor alten Zeiten. Dort rings um dem Brunnen waren die unterirdischen Höhlen der Hasen. Den ausgesandten Spähern gefiel Ort und Gelegenheit gar zu wohl, sie kehrten heim und erstatteten Bericht über den neuen Wohnsitz. Von den Hasen hatten sie nichts wahrgenommen, denn der kleine fürchtet den Großen und die Weisen behaupten, es sei von Seiten Kleiner nicht gut Kirschen essen mit den Mächtigen. Auf die gute Botschaft hin brach das Elefantenvolk samt seinem Könige auf, und zertrampelten den armen Hasen Wohnungen, Höhlen und Ansitze in Grund und Boden samt einem Teile des zaghaften Völkleins. Da war des Jammers klein Ende, und die Hasen liefen haufenweise zu ihrem Könige und klagten ihm ihr Herzleid, und wollten Rat und Hülfe von ihm. Aber da war guter Rat teuer und Hülfe fern, denn was vermag das schwache Häslein gegen den mächtigen Elefanten? Der Hasen-König aber berief dennoch seine Räte, und sprach zu ihnen: ´Ich fühle wohl, daß ich nicht weise genug bin, meinem zertretenem Reiche zu helfen, darum ratet ihr, was uns zu tun ziemt, redlich und getreulich, mir und euch und der gesamten Hasenheit zu Nutz und Frommen.´ Da sprach ein alter Hase, welcher weise und gelehrt war, und in großer Achtung stand: ´Wenn es dir gefällt, so sende mich, mein König, und noch einen deiner Getreuen, der meine Werbung vernehme und dir darüber berichte, zum Könige der Elefantzen.´ Der König erwiderte auf diese Rede: `Mich will bedünken, du seiest getreu und weise genug, und ich vertraue dir sonder allen Argwohn ganz allein. Vollziehe die Sendung und melde was du ausgerichtet. Sage auch dem Könige der Elefanten meinen Gruß, und außerdem in meinem Namen alles was dir gut dünkt, denn ein Botschafter muß wissen wie es sich verhalte, und alles beobachten und in Anwendung bringen, was ihm nützlich erscheint.´ - Hierauf machte sich der alte Hase in einer hellen Vollmondnacht auf und ging nach dem Mondbrunnen, doch überlegte er mit Vorsicht, daß er von zarter Leibes- und Gliederbeschaffenheit sei, und dachte der alten Sprichwörter: Wer sich mutwillig in Gefahr begibt, der kommt darin um, und wer unter die wilden Tiere geht, den zehren sie auf. Ich will diesen Berg besteigen und mit dem Elefantenkönige Zwiesprache pflegen. Der alte Hase tat, wie er gesagt, und kam vor den Elefantenkönig und sagte zu ihm: ´An dich, großmächtigster Herr und König, sendet mich der Mond, mein nachtbeherrschender Gebieter. Höre seine Botschaft durch mich an in deiner Weisheit und laß mich nicht etwa mißfälliges entgelten, denn ein Abgesandter ist nur ein Werkzeug.´ Der Elefenatenkönig sprach: ´Sage mir an, was ist es, das der Mond wünscht und gebeut?´ und der alte Hase erwiderte: ´Also entbietet dir durch meinen Mund der Mond: Der Mächtige, der seiner Macht vertraut, läßt sich leicht durch diese bewegen, zu streiten gegen den, der noch mächtiger und stärker ist und sein Kampfgelüst wird ihm leicht zu einem Strick um seine Füße. Du o König, lässest dir damit nicht genügen, daß du der Mächtigste und Größte bist unter allen Tieren, nein, du hast deinen Zug unternommen gegen mein armes Volk, das Volk der Hasen ; hast mit den deinen ihrer und ihrer unschuldigen Kindlein Weide zertreten, und meinen und ihren Brunnen. Tue dies nicht mehr, hebe dich mit den Deinen anderswohin von dannen, oder ich will eure Augen trübe machen, spricht der Mond, und euch von dannen bringen mit meinem grimmigen Zorn. - Und so du, o König, meinen Worten nicht glaubst, so soll ich dir des Mondes zornvolles Antlitz zeigen.´ Da erschrak der Elefantenkönig und ging mit dem Hasen zu dem Mondbrunnen, und der letztere ließ ihn in das Wasser sehen, und sagte: ´Schmecke mit deiner langen Nase hinab, so schmeckst du den Mond.´ Da stieß der Elefant seinen Rüssel in den Mondbrunnen, und da bewegte sich alsbald das Wasser, und das widerspiegelte klare Antlitz des Mondes verzerrte sich. ´Siehest du - o mächtiger König ! ´ rief der Hase: ´wie grimmig der Mond dich anschaut, und seinen ganzen Zorn dir verkündet durch seine Mienen über das Arge, das du ihm und seinem Volke getan ! ´ Darauf sprach der Elefantenkönig: ´ O Herr, der Mond ! Nimmermehr will ich oder soll einer der Meinen wider dich und die Deinen sein ! Gern wollen wir weichen von deinem Heiligtume.´ Und tat also und zog ab mit den Seinen weit hinweg von dem Mondbrunnen, und die Hasen nahmen wieder Besitz und bauten ihre Wohnungen aufs neue, und wohnen noch heute in Frieden an ihrem Orte.
´Dieses`, sprach der zu dem Volke der Vögel redende Rabe, habe ich euch als ein Beispiel gesagt, daß ihr euch einen verständigen König euch wählt, der, wie jener König der Hasen, auf verständigen Rat achtet, und nicht stets selbstherrisch immer oben hinaus will, wie der Adler, und auf der Irrigkeit eines starken Kopfes beharrt, oder der auch, weil Weisheit ihm mangelt, wie dem Elefantenkönige, leicht zu überlisten ist. Es ist auch ganz gegen des gesamten Vogelreiches Satzung, daß alle ein gemeinsames Oberhaupt haben. Mögen die Adler einen Adler zum Könige wählen, dagegen läßt sich nichts sagen, die Geier ihren Geierkönig und die Zaunhüpferlinge ihren Zaunkönig, jedes Volk seinen eigenen, dafür sind die Geschlechter unterschieden. Was soll, um nur ein Beispiel euch zu sagen, dem Taubengeschlechte ein Adler zum Könige ? Er wird seine Krallen in ihrem Blute baden, und sie fressen. Wahrlich, welches Geschlecht sich einen anderen Gebieter erwählt und dem falschen Fremdling vertraut, dem geschieht billig, wie dem Hasen und dem Hasen und dem Vogel, die in einer Streitsache einen unbekannten Mann über sich zum Richter erkoren.´ ´Wie war das ?´fragten die Vögel. - ´Ich will es, mit eurer Erlaubnis, euch vortragen`, erwiderte der Rabe, der Sprecher in der befiederten Nationalversammlung.”
Von einem Hasen und einem Vogel

“´Ich hatte einst´, sprach der Rabe” - so erzählte der weise Ratgeber des Rabenköniges - “zu den aufhorchenden um ihn versammelten Vögeln: ´einen guten Freund, auch einen Vogel ; sein Name gehört nicht zur Sache. Derselbe hatte die Gewohnheit, wenn er sein Nest verließ, das in der Nachbarschaft des meinen in einer Felskluft sich befand, oft sehr lange wegzubleiben, so daß ich manchmal glaubte, er sei in der Fremde verunglückt oder gestorben, oder gefangen, oder habe sich anderswo häuslich niedergelassen. Da geschah es, daß ein Hase jene Felskluft fand, und in ihr das weiche warme Vogelnest, und sich hinein bettete. Ich hielt nicht für weise, mich in fremde Angelegenheiten zu mischen, und gedachte bei mir, weshalb solltest du dem Hasen die Wohnung wehren, da doch der Vogel vielleicht nicht wiederkehrt? Auf einmal vernahm ich ein Gezänk unter mir, denn der Baum, welcher mein Nest trug, stand dicht neben dem Felsen. Mein Nachbar, der Vogel, war wieder da, saß außen vor dem Felsloche und kreischte: “Das ist mein Nest ! Packe dich gleich heraus !” Drinnen aber saß der Hase und rief: “Ich bin im Besitze dieser Wohnung und schon eine geraume Zeit. Da könnte jeder kommen, dem sie anstünde, und könnte sagen: Ziehe aus!” - “Du bist ein ehrvergessener schlechter Hase!” schrie der Vogel. “Ein Räuber bist du! Das Nest ist mein und du wirst es räumen!” “Nein - ich werde es nicht räumen!” erwiderte der Hase. “Schimpfe und schwätze so viel du willst! Glaubst du eine gerechte Sache zu haben, so verklage mich! Vor dem Richter will ich dir Rede stehen, hier aber nicht.” Hierauf verwahrte der Hase seine Tür und zog sich in das Innere der Felskluft zurück. Eine Zeit darauf kam der Vogel wieder, und sagte zum Hasen: “Ich weiß einen frommen, retlichen Alten, der soll Recht sprechen zwischen dir und mir! Folge mir zu ihm.” “Wer ist es ? Wie heißt er ?” fragte der Hase. “Ich habe ihn noch nicht gesprochen”, antwortete der Vogel. “Er lebt noch nicht lange in dieser Gegend, er ist ein frommer Einsiedler, welcher den ganzen Tag fastet und betet, und voll ehrbaren Wesens sich zeigt. Er soll früher ein Maushund gewesen sein, hat sich aber längst der Katzennatur abgetan, und aller Üppigkeit der Welt, allen schnöden Mäusefraßes. Er vergießt kein Blut, nährt sich von Wurzeln, Gras und Kräutern, sein Getränk ist nur klares Wasser. Er wird ganz gewiss unparteiisch über uns Urthel sprechen.” “Eine Katze ? Ein alter Maushund ?” fragte mißtrauisch der Hase. “Dem traue ich nicht sonderlich. Das Sprichwort sagt: Die Katze läßt das Mausen nicht.” Aber der Vogel hörte nicht auf, in den Hasen zu dringen, bis dieser mit ihm ging. Ich folgte von Ferne nach, zu sehen, wie das ablaufen werde. Die Katze, eigentlich ein großer wilder Kater, saß, wie ich von weitem sah, vor ihrer Wohnung und sonnte sich, dehnte sich behaglich aus, beleckte sich die Pfoten und strich den Bart, plötzlich, wie sie den Vogel und den Hasen kommen sah, huschte sie in ihr Gemach, und als die beiden Gefährten zu ihr eintraten, fanden sie dieselbe in ein härenes Büßergewand gehüllt, in betender Stellung auf den Knieen liegen. Da gewann auch der Hase Zutrauen, und freute sich, einen so heiligen Mann kennen zu lernen, und nun entschuldigten beide um die Wette die Störung in der Andacht, und baten, ihrem Anliegen ein geneigtes Ohr zu leihen. “Lieben Freunde !” sprach der Maushund mit leiser und heiserer Stimme, indem er die Augen frömmelnd verdrehte: “Ich bin alt, meine Augen sind trübe und dunkel, um mein Gehör stehet es sehr übel, gehet nahe herzu, und redet recht laut, daß ich ja alles richtig vernehme.” Nun erzählten Vogel und Hase, wie sie miteinander ob des von einem verlassenen, vom anderen in Besitz genommenen Nestes in Streit und Hader gekommen, und sich dahin vereinigt, sich seinem unparteiischen Urteilsspruche zu unterwerfen. Asl sie beiderseits schwiegen, sprach der wilde Maushund wieder ganz heiser: “Hab euch wohl verstanden, liebe Kinder, wohl verstanden. Ich will euch gut beraten und euch weisen die Wege der Gerechtigkeit. Oh, daß mich der Himmel erleuchte, ein rechtes und richtiges Urteil in dieser eurer so überaus wichtigen Sache zu fällen, und in diesem schwierigen Falle die Wahrheit zu finden ! Denn besser ist es, eine Sache geht verloren durch die Beleuchtung mit der Fackel der Wahrheit, als daß sie durch Lug und Trug und Unwahrheit fälschlich gewonnen werde. Ach - ach ! Was haben wir denn hienieden ? Keine bleibende Stätte ! Nur das eine nehmen wir mit hinüber in die zukünftige Welt, die Werke, die wir vollbracht haben zu unserer Seelen Heil oder zur Verdammnis. Gönnte doch ein jeglicher seinem Nächsten hienieden Gutes ! Tretet getrost näher, liebe Kinder, und ruhet euch aus, derweil ich im Gebet um Erleuchtung in eurer Sache flehe.” Hase und Vogel vertrauten diesen heuchlerischen Worten des falschen heimtückischen wilden Katers, ich aber, der ich nahe geflogen war, und jedes Wort vernommen hatte, hörte nur noch, wie die Katze ihre Türe zuwarf, und wie der Vogel drinnen jämmerlich schrie. Das ungetreue Tier hatte Vogel und Hasen erwürgt, verspeiste beide, und bezog dann jene verlassene Wohnung, welcher besser gelegen und eingerichtet war, als die armselige des Maushundes, worauf ich alsbald von dort auswanderte. -.
Sehet hier ein Beispiel wie blindes Vertrauen, das man auf unbekannte Leute setzt, die sich, gleich den Adlern, uns durch ihre Arglist und Bosheit nähern, sich bestraft. Der Adler ist unter den Vögeln gerade das, was der Wolf unter den vierfüßigen Tieren. Und ich bleibe dabei, und wiederhole es euch dringend und warnend, ja warnend: `Wählt nimmer den Adler zum König !`”
“Mit erhobener Stimme”, fuhr der alte geheimerat Rabe dem Könige, seinen Herren, zu erzählen fort: “endete der gewandte Volksredner seinen Vortrag, und was war die Folge ? Kein Vogel wollte nun den Adler zum Könige haben, es wurde nichts aus der ganzen Königswahl, die Rednergabe des Raben feierte einen glänzenden Sieg, wenig fehlte, so hätte man ihn zum Könige ausgerufen.” “Und was sagte der Adler dazu?” fragte der König. “Das soll mein gnädigster König und Herr sogleich erfahren”, erwiderte der Geheimerat: “Der Adler sprach zum Raben: `Sprich Rabe, was habe ich dir jemals zu Leide getan ? Aus welchem Grund wälzest du so viele Schmach auf mich ? Nie habe ich etwas wider dich verschuldet, und du mit deinen giftigen und verleumderischen Worten raubst mir heute eine herrliche Krone, die ich schon nahe ob meinem Haupte schweben fühlte ! Aber bei aller Wahrheit schwöre ich dir heilig und teuer, du Lässterredner: ein Baum, in den ein Mensch mit der Axt haut, wächst wieder zusammen, und eine Schwertwunde durch Fleisch und Bein mag wieder heilen. Aber die Wunden, welche die Zunge schlägt, die heilen nicht, und ihr Schade gewinnt kein Ende. Deine Worte sind mir ein glühendes Schwert, das mir immerdar im Fleische wütet. Feuer mag durch Wasse gelöscht werden, und der Brand des Haders durch Schweigen; der Schlangen Giftbiß heilt durch Theriak, und die Wunde der Traurigkeit durch Hoffnung. Aber das Feuer der Feindschaft, in das die Zunge Öl gießt, das brennt sonder Ende. Heute hast du, o weiser Redner Rabe, einen Dornbusch gepflanzt zwischen dein Geschlecht und mein Geschlecht, der soll dauern und grünen von Welt zu Welt, bei unserm und unserer Kinder und spätesten Enkel Leben, und soll euch die bitterste Furcht des Hasses tragen ! Das sei dir zugeschworen bei Jovis Blitzen !` Als die Vögel die Zornworte des Adlers vernahmen, erschraken sie, und hoben ihre Schwingen, und flogen davon nach allen vier Winden, und der Adler flog auch davon, und keiner sagte weiter ein Wort, und nur der Rage saß einsam und verlassen auf dem Steine, der ihm als Rednerkanzel gedient hatte, und wurde sehr nachdenklich und sprach zu sich selber: Nun habe ich auch geredet. Weiser wäre gewesen, wenn ich geschwiegen hätte. Die alten Weisen sagten: Reden ist Silber, schweigen ist Gold. Jetzt habe ich durch meine Warnung mir und meinem Geschlechte der Aaren ewigen Haß heraufbeschworen. Der Adler hat mich mit Machtworten niedergeschmettert, und keiner der anderen Vögel hat auch nur den Schnabel aufgetan, das Wort für mich zu nehmen, trotz ihrem vorherigen tollen Zujauchzen. Sie waren klug, sie haben das Gold des Schweigens gefunden; sie haben nicht Neigung gehabt, ihre Zungen zu verbrennen, wie ich getan, ich alter Narr und alberner Schwätzer. Jene Gedachten der Zukunft, ich hatte nur die Gegenwart im Auge. Stützte sich doch kein weiser Mann auf seine Weisheit, und kein starker auf seine Stärke, und belade sich nicht, um andern zu nützen, mit Feindschaft, sonst ist er der Tor, der Gift genießt, um hernach dessen Wirkungen mit Theriak zu hintertreiben; solches Tun kann leicht fehlschlagen. Für den unweisesten und allerdümmsten aller Vögel muß ich mich von heute an und immerdar selbst halten. Konnte ich nicht dessen eingedenk sein, was die alten Weisen sagten: das ist der schädlichste Verlust, den sich einer durch Worte zuzieht - bevor ich mit meinem dummen Schnabel die ewige Feindschaft der Adler gegen mein Geschlecht entzündete ! So klagte der Rabe, und nahm sich seine unweise Rede dermaßen zu Herzen, daß er bald darauf erkrankte und starb. “Siehe, mein König”, endete der Geheimerat seine Mitteilung: “das ist die Ursache des Adlerhasses gegen uns.” “O wehe !” seufzte der König: “Wollte der Himmel, daß jener unweise Rabe nie aus dem Ei gekrochen wäre, statt uns in diese Not zu bringen. Jetzt werden uns noch die Zähne von den sauern Träublein stumpf, die unsere Väter gegessen haben. Aber nun rede weiter, was soll es werden, was sollen wir tun ?” -






LUDWIG BECHSTEIN

NEUES DEUTSCHES MÄRCHENBUCH

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Dienstag, 3. April 2018
Der Zauber
wer ist wo und wie ist was
wie ist wer und was ist wo

Kaimen bei Licht - Vergessen im Schatten
Knollen wie Stauden - Blätter wie Blüten

wann ist dann
wen oder den
denen und jenen ?

Ottern , Nattern , Vipern kommt herbei
Otter , Natter , Viper währet Drei
Ihr Schlangen ... ! ... IHR
SCHLANGEN

Die Otter kam aus den Wäldern. Die Natter kam aus den Wassern. Die Viper kam von den Bergen. Da trafen sie zusammen, an einem geheimen Ort. Zunächst krochen sie zu einem großen Kreis hintereinander her. Dann schlängelten sie sich und alle Drei richteten sich auf. Sie zischelten mit ihren gespaltenen Zungen und nahmen einander streng ins Visier.
“Der Argwohn isst mit dem Teufel aus der gleichen Schüssel,” zischelte die Otter.
“In der Not frisst der Teufel Fliegen,” zischelte die Natter.
“Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen,” zischelte die Viper.
Alsbald als alles gesprochen war kroch eine Jede wieder ihres Weges. Bis in hundert Jahren sollten sie einander nicht mehr treffen.
Nur die Maus Sambar aber, hatte das Treffen belauscht, wohl weil sie als Einzige tatsächlich an den Zauber glaubte. Die Schildkröte konnte keinen Schein mehr lösen, der Elch war in einen See geplumpst, der Bär hatte verschlafen und die Ziege, die war super - bockig. So raste die Maus durch die Tunnel der Maulwürfe, über Stöcke und Steine, über einen breiten Fluss hatte sie ein Rabe getragen. Und als sie dann wieder zurück bei ihren Freunden saß, berichtete die Maus Sambar ganz aus der Puste, Mäusezähnchen klappernd, Augenlidchen zuckend, noch piepsend im Öhrchen, was dem Zauber der Otter, der Viper und der Natter inne wohnte:
“Ein Jedes möchte die Welt verbessern und Jeder könnte es auch, wenn es nur bei sich selber anfangen wollen würde.”


Und wer`s nicht glaubt bezahlt sehr VIEL.



Thomas Petri

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Wenn Blumen erröten
Eines Tages fragten sich die Blumen, Bäume, Sträucher
und Büsche wer wohl der oder die Schönste von allen sei ?
Alle wussten was zu sagen. Egal ob die Tulpe wegen ihrer Farbe. Die Rose aufgrund ihres stolzen Aussehens oder auch die Narzisse die so wundervoll leuchtet, wie Gold. Dann kamen die, die ihre Größe hervorhoben, ihre Form oder auch ihren wundervollen Duft. Eine Einigung kam nicht zustande. Somit wurde die Sonne als Anwalt bestimmt. Sie sollte entscheiden wer gewinnt. Sie fand das Gänseblümchen am schönsten,
da sie im Frühjahr die Erste ist die blüht und im Winter die Letzte die verwelkt.
Ebenso hat sie ein kleines goldenes Herz. Alle verneigten sich vor dem Gänseblümchen. Sie wurde so verlegen, dass ihre Ohren rot wurden.


XXX?

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Loreley
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.

Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldnes Haar.

Sie kämmt es mit goldnem Kamme,
Und singt ein Lied dabey;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodey.

Den Schiffer, im kleinen Schiffe,
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh'.

Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Loreley getan.

Heinrich Heine

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Dienstag, 29. März 2016
Ei ei
Als ich das Ei schälte,
das trotz des kalten Wassers
die Finger fast verbrannte,
war in ihm noch eine zweite Schale,
ein Ei im Ei,
und zu heiß:
Anblasen half nicht.
Ich mußte noch warten
und dabei
verging mir der Appetit

Ich hätte so etwas
nicht für möglich gehalten:
ein ganz gewöhnliches Ei
beim Herausheben aus dem
kochenden Wasser
sofort ganz trocken,
also auch ganz verläßlich hartgekocht

Nun beim Schälen der zweiten Schale
schon kaum mehr verwundert:
eine dritte darunter,
groß, dick. Wie soll ich das nennen?
Ja, eine wahre
Zwiebel von einem Ei!
Und außerdem finde ich
(nun doch ein wenig erschrocken)
jede weitere innere Schale
immer um etwas größer
als die bisher letzte -
also statt wie ein normales
Zwiebelei
immer kleiner zu werden,
wächst dieses Ei nach innen
und die weiteren größeren Schalen
sind überdies nicht mehr ganz
sondern durchbrochen wie Gitter
oder gewachsen wie Netzwerk.
Und darin laufen
soweit ich aus dieser Entfernung
noch richtig sehen kann
große Hühner herum

Sehr große Hühner -
und picken mit dem Schnabel
- Hühner, nicht etwas Küken,
wie man sie herumlaufen sähe
in einem normalen Ei! -
und picken auch nicht nach Körnern
oder Würmern . . . Aber was ist das?
Das können doch keine
Menschen sein, nach denen sie picken?
Ja, das sind Menschen, nur schwer zu erkennen, weil sie
nicht stillhalten, sondern fliehen wollen. Doch da
liegt noch ein halber, ganz still. Man sieht sogar noch
die zerbrochene Brille. So, jetzt pickt es auch den auf!
Und da, ein zweiter, klebt am Gitter oder am Netz
der durchbrochenen Schale. - Nein. Klebt gar nicht . . . Hilfe!
Er klebt nicht, sondern er wirft sich gegen das Gitter!
oder ist es ein Netz? - winkt mir und kann nicht heraus.

Die Menschen sind ihm zu eng! Ich muß ihm helfen:
Es ist doch nur eine Eischale, weiter nichts!
Nur, wenn ich ein Stück abschäle, kann auch das Huhn durch,
das da schon näherkommt!
Halt! Das ist in Wirklichkeit gar kein
Loch im Gitternetz: Das ist ein Spiegel! Der Mann
bewegt sich genau wie ich! Das Huhn, das gekommen ist,
um ihn zu fressen, ist nur ein Spiegelbild.
In Wirklichkeit steht es
hinter mir! . . . und auf ihm sitzt meine Mutter
(das kann gar nicht sein! Sie ist doch seit zwei Jahren tot?) und
reitet auf ihm
und zwingt seinen Kopf
immer näher zu mir her.




Erich Fried

“ Es ist
was es ist”

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