Dienstag, 29. März 2016
Ei ei
Als ich das Ei schälte,
das trotz des kalten Wassers
die Finger fast verbrannte,
war in ihm noch eine zweite Schale,
ein Ei im Ei,
und zu heiß:
Anblasen half nicht.
Ich mußte noch warten
und dabei
verging mir der Appetit

Ich hätte so etwas
nicht für möglich gehalten:
ein ganz gewöhnliches Ei
beim Herausheben aus dem
kochenden Wasser
sofort ganz trocken,
also auch ganz verläßlich hartgekocht

Nun beim Schälen der zweiten Schale
schon kaum mehr verwundert:
eine dritte darunter,
groß, dick. Wie soll ich das nennen?
Ja, eine wahre
Zwiebel von einem Ei!
Und außerdem finde ich
(nun doch ein wenig erschrocken)
jede weitere innere Schale
immer um etwas größer
als die bisher letzte -
also statt wie ein normales
Zwiebelei
immer kleiner zu werden,
wächst dieses Ei nach innen
und die weiteren größeren Schalen
sind überdies nicht mehr ganz
sondern durchbrochen wie Gitter
oder gewachsen wie Netzwerk.
Und darin laufen
soweit ich aus dieser Entfernung
noch richtig sehen kann
große Hühner herum

Sehr große Hühner -
und picken mit dem Schnabel
- Hühner, nicht etwas Küken,
wie man sie herumlaufen sähe
in einem normalen Ei! -
und picken auch nicht nach Körnern
oder Würmern . . . Aber was ist das?
Das können doch keine
Menschen sein, nach denen sie picken?
Ja, das sind Menschen, nur schwer zu erkennen, weil sie
nicht stillhalten, sondern fliehen wollen. Doch da
liegt noch ein halber, ganz still. Man sieht sogar noch
die zerbrochene Brille. So, jetzt pickt es auch den auf!
Und da, ein zweiter, klebt am Gitter oder am Netz
der durchbrochenen Schale. - Nein. Klebt gar nicht . . . Hilfe!
Er klebt nicht, sondern er wirft sich gegen das Gitter!
oder ist es ein Netz? - winkt mir und kann nicht heraus.

Die Menschen sind ihm zu eng! Ich muß ihm helfen:
Es ist doch nur eine Eischale, weiter nichts!
Nur, wenn ich ein Stück abschäle, kann auch das Huhn durch,
das da schon näherkommt!
Halt! Das ist in Wirklichkeit gar kein
Loch im Gitternetz: Das ist ein Spiegel! Der Mann
bewegt sich genau wie ich! Das Huhn, das gekommen ist,
um ihn zu fressen, ist nur ein Spiegelbild.
In Wirklichkeit steht es
hinter mir! . . . und auf ihm sitzt meine Mutter
(das kann gar nicht sein! Sie ist doch seit zwei Jahren tot?) und
reitet auf ihm
und zwingt seinen Kopf
immer näher zu mir her.




Erich Fried

“ Es ist
was es ist”

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